von Natur aus

Menschen sind von Natur aus unterschiedlich. Diesem Satz würden die meisten Menschen sofort und ohne zu Zögern aus voller Überzeugung zustimmen. 
Aber die Schlüsse, die sie daraus ziehen, sind … sagen wir „divers“:
„Frauen sind besser für die Fürsorge von Kindern geeignet – immerhin bekommen sie die Kinder und stillen sie.“
„Menschen sind von Natur aus gut. Es ist die Sozialisation, die sie böse macht.“
„Stillen und ein Familienbett sind das Beste für Kinder, genau wie Stoffwindeln und Tragen. So ist es nämlich in den naturverbundenen Völkern üblich.“
„Männer sind einfach das stärkere und rationalere Geschlecht. Das ist einfache Biologie.“
„Die Biologie ist in Bezug auf Geschlechtszugehörigkeit nicht immer eindeutig! Deshalb ist die Zuordnung von Menschen zu einem bestimmten Geschlecht problematisch – am besten schaffen wir das ab!“
„Menschen sind auch nur Tiere, wenn man das mal biologisch betrachtet.“
„Männer denken von Natur aus mehr an Sex.“
„Kinder sind von ihrer Gehirnentwicklung her erst mit 7 Jahren zur Perspektivübernahme fähig. Wir erwarten zu viel von kleineren Kindern.“
„Frauen aus südlichen Ländern empfinden Schmerz viel weniger stark, das liegt in ihrer Natur wie das Tanzen.“
„Es entspricht der menschlichen Natur viel mehr, vegan oder vegetarisch zu essen.“
Doch „divers“ ist ein viel zu freundlicher Begriff für diese unterschiedlichen Aussagen. Denn sie beschreiben eigentlich nicht so sehr, dass Menschen unterschiedlich sind. Sie leiten (scheinbar) aus „der Natur“ ab, was typisch für (manche) Menschen ist.
Dabei sind die Aussagen teilweise gegensätzlich! Je nachdem, was Deine eigenen Vorstellungen vom Menschen sind, hast Du bei manchen der Aussagen zustimmend genickt und bei anderen gedacht: „Was ist denn das bitte für ein Quatsch?!“
Vielleicht kommt Dir bei mancher Aussage eine der folgenden Bezeichnung in den Sinn, die alle starke Ablehnung ausdrücken sollen: „woke“ oder „rassistisch“ oder „sexistisch“ oder „fundamentalistisch“ oder „links-grün-versifft“. Oder was Dir sonst dazu einfällt.
Richtig und wertneutral wäre es, die Aussagen als „naturalisierend“ zu bezeichnen, weil sie ihre Sichtweise auf den Menschen als „die der Natur am besten entsprechende“ darstellen.
Mich fasziniert, dass eins diese Aussagen vereint: Sie ziehen alle für ihre Aussagen die Natur zur Begründung heran. Die Natur – das Ursprüngliche, Eigentliche. Ein bisschen geheimnisvoll und auf jeden Fall sagenumwoben. Und zumindest im Deutschen weiblich: die Natur, Mutter Erde. Empfänglich, warmherzig, gut. In den biblischen Schöpfungsgeschichten ein bisschen chaotisch (am Anfang gab es ein großes Durcheinander, tohuwabohu), verbunden mit Nomadentum.
Demgegenüber steht Vater Staat oder auch Gott-Vater. Das Patriarchat, das Ordnende, die sesshafte Gesellschaft, die die Natur einschränkt und zum Besitz erklärt.
Was ich hier gerade ein bisschen holzschnittartig nachzeichne, hat sich aus den Ansätzen der Aufklärung entwickelt. Einer dieser Ansätze ist von Jean-Jacques Rousseau. Er beschreibt im Roman „Emile“, wie ein Erzieher ein Kind nur in seiner Entwicklung begleitet statt es in seine gesellschaftliche Rolle „einzupassen“. Das unschuldige Kind wird davor bewahrt, durch schlechte Eltern und die böse Gesellschaft verdorben zu werden. Kommt Dir das bekannt vor? Vieles in der Bindungs- und Bedürfnisorientierten Erziehung wird mit der Natur begründet.
Aber mit der Natur begründet ist eben unter anderem auch die „Rassenlehre“. Sorry to tell you: die „Natur“ ist für viele und sogar gegensätzliche Positionen die letztendliche „Begründung“.
Das ist deshalb so charmant, weil die Natur für viele so unhinterfragbar ist wie Gott.
Aber beides ist anfällig für Ideologie, wenn es zur einzigen und ultimativen Begründung wird. Warum? Weil es für so ziemlich jede Position möglich ist, in der Natur ein Beispiel für die eigene Sichtweise zu finden und dann zu sagen: „Was ich sage, wird durch die Natur bewiesen.“ Die Natur ist dann die absolute Autorität, was den jeweiligen Menschen aus der ethischen Verantwortung entlässt (man muss sich nicht mehr mit einem Thema auseinandersetzen, es gibt ja eine klare Antwort aus der Natur). So wird aber oft unbemerkt auch Diskriminierung legitimiert. Alles, was nicht „natürlich“ ist, ist „falsch“: eine Mutter, die arbeiten geht, ein Kind, das „viel zu klug ist für sein Alter“, ein Junge, der lieber malt als Fußball zu spielen usw.
Das geschieht zum Beispiel durch Bildsprache und durch solche Formulierungen, wie ich sie oben aufgeschrieben habe, die ein bestimmtes Bild als das Natürliche und damit Richtige darstellen.
Bewegungen, die aus dem, wie etwas „ursprünglich“, also im „Naturzustand“ war, ableiten wie es „eigentlich“ und „richtig“ geht, laufen Gefahr, naturalisierend zu argumentieren.
Klar könnte man jetzt sagen: Manches aus der Natur lässt sich wissenschaftlich belegen, anderes nicht. Aber die Corona-Pandemie hat mich gelehrt, dass alle Positionen jemanden finden, der ihre Sichtweise wissenschaftlich untermauert. Mit Argumenten aus den Naturwissenschaften. Sie gelten (bisher) gesellschaftlich als belastbare, vertrauenswürdige Wissenschaften, weil in ihnen die Natur rational, mess- und überprüfbar erscheint.
Ich möchte damit nicht die Naturwissenschaften oder andere Wissenschaften in Frage stellen. Eher will ich es als interessant markieren, dass Natur erst durch „rationale Wissenschaft“ messbar gemacht werden muss, bevor man aus ihr eine Erkenntnis ziehen kann (Willkommen im Patriarchat!).
Ich sehe es vor allem kritisch, einen uns letztlich unbekannten „Ursprungszustand“ als normativen Maßstab für unser Handeln zu nehmen. Die Natur und die Frage nach ihr ist nicht irrelevant, wir sollten unbedingt danach fragen. Aber lasst uns das so machen, wie in Therapie und Beratung nach den Ursachen und Wirkungen von Entwicklung gefragt wird. Das geschieht nämlich unter der Fragestellung, ob und inwiefern die Ergebnisse uns in den Herausforderungen helfen, vor denen wir aktuell stehen.
Unsere Welt ist nicht in einem wie auch immer gearteten „Naturzustand“,  sondern bebaut, digitalisiert und vernetzt. Beeinflussen können wir nur die Zukunft, zurückdrehen lässt sich nichts. Was wir über die Natur des Menschen und der Welt „wissen“, ist immer von unseren bisherigen Vorerfahrungen und unserer Weltanschauung beeinflusst.
Und deshalb halte ich es für wichtiger, die eigenen Vorerfahrungen und die eigene Weltanschauung transparent zu machen, als nach dem „Naturzustand“ zu fragen.
Für meine Arbeit ist vor allem die Frage relevant, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Denn das hat Einfluss auf das Familienleben und die Bewertung von Erziehung und Sozialisation. Und auch die Geschlechtszuschreibungen auf Basis der „Natur“ (egal in welche Richtung) spielen in meiner Arbeit eine Rolle.
Und mitten in diese Fragen hinein möchte ich betonen:
die Natur als Begründung entbindet uns – auch nicht in der Form von Naturwissenschaft! – nicht von unserer Verantwortung, Entscheidungen auf der Grundlage von ethischen Argumenten zu treffen.

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