Beherrscht oder freier Lauf? Was unsere Sprache über unser Verständnis von Gefühlen verrät
Gefühle sind vermutlich gleichzeitig das Schönste und das Anstrengendste in unserem Leben. Manchmal könnten wir gut auf sie verzichten: auf die Wutausbrüche, die aus uns herausbrechen und auf die Schuldgefühle, Ängste oder Einsamkeit, die uns überfallen.
Aber andererseits sind Freude und Liebe, Stolz auf gute Leistungen und Überraschung und Vorfreude an Geburtstagen und Weihnachten ja auch wunderbare Gefühle.
Na gut, gerade Geburtstage, Weihnachten und auch Ferien bringen eher echte Gefühlscocktails mit sich, als dass uns ein einziges (positives) Gefühl beherrschen würde: Große Anspannung vor Freude, große Enttäuschung, wenn es nicht so läuft wie erwartet, wohliges Fallenlassen in Rituale und Freiheit, Dankbarkeit und abgrundtiefer Stress gehören dazu. Und vielleicht auch der Kummer wegen all denen, die an besonderen Tagen besonders vermisst werden.
Wo wir Gefühle beherrschen müssen
Wir könnten auf manche Gefühle gut verzichten und wollen andere um keinen Preis missen. Und obwohl wir überall ganz verschiedene Gefühle haben, zeigen wir nicht alle Gefühle überall. An den meisten Orten dieser Welt, so haben wir gelernt, lässt man seinen Gefühlen nämlich nicht “freien Lauf”, sondern “beherrscht” sie. Nur zuhause, da verlieren wir dann unsere Beherrschung und zeigen uns ungeschützt mit unserer ganzen Gefühlspalette. „Ungeschützt“ bedeutet dabei nicht nur, dass wir selbst verletzlich werden, wenn wir unsere Gefühle zeigen, sondern auch, dass die Familienmitglieder ungeschützt unseren Gefühlen ausgesetzt sind: Sie „platzen aus uns heraus“, sagen wir, weil wir sie hier nicht mehr länger zurückhalten können. Oder müssen – denn hier zuhause ist es legitim, ganz ich selbst zu sein, inklusive aller Gefühle.
Oder vielleicht auch nicht.
Denn nicht in jeder Familie oder Familiensituation ist es sicher, sich zuhause mit seinen Gefühlen zu zeigen. Dass wir das eine traurige Wahrheit finden, zeigt, wie wichtig wir Ehrlichkeit über Gefühle für Nähe und Verbundenheit und damit für “echtes Familienleben” halten. Und sie sind es ja auch – denn Kinder fühlen lange bevor sie denken.
Was unsere Sprache über Gefühle sagt
Die Bewertung und Beachtung von Gefühlen ist aber gesellschaftlich ein heißes Eisen. Die Frage, ob Gefühle beherrscht werden sollten oder ob man ihnen freien Lauf lassen kann, nimmt Raum ein und sorgt für Konflikte – nicht nur zwischen den Generationen.
Gefühle sind in unserer Sprache oft stärker als der Verstand und etwas, das überwunden oder besser: vom Verstand unterworfen werden muss. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir durch die Macht der Gefühle ein Verhalten an den Tag legen, das wir mit etwas Nachdenken über soziale Zusammenhänge (vielleicht) nicht zeigen würden. Deshalb klingt es “logisch”, dass die Gefühle sich dem vernünftigeren Verstand unterordnen sollten.
Gefühle sind typisch Mensch
Die menschliche Entwicklung scheint dem Vorrang von Vernunft doch auch Recht zu geben: Kinder entwickeln schließlich mit dem Verstand auch die Fähigkeit, die Gefühle nach und nach immer mehr zu steuern. Das spricht doch für das Modell “Wille als Lokomotive, Verstand als Waggon und Gefühl als Anhängsel”, oder?
Jein, würde ich ganz diplomatisch sagen. Man könnte auch sagen: Gefühle scheinen Menschlichkeit basaler auszumachen als der Verstand, schließlich sind sie zuerst da. Doch Verstand und Gefühl sind ja nicht die einzigen Aspekte, die den Menschen ausmachen. Sie sind auch keine Gegenspieler, sondern ergänzen sich als verschiedenartige Informationen zum Sein. Und wir sind als Menschen sowohl Individuum – unteilbare Einheiten – als auch soziale Wesen, die in verschiedenen Situationen unterschiedliche Seiten von sich zeigen und an sich entdecken.
Die Konflikte zwischen Generationen verstehen
Und so lässt sich auch sowohl der Konflikt zwischen denen, die Gefühlen mehr Raum geben (wollen) und denen, die finden, dass Gefühlen zu viel Raum gegeben wird, verstehen und nachfühlen:
Da ist die Frage, wie gut man selbst gelernt hat oder in der Lage ist, sich zu regulieren (aus welchen Gründen auch immer), da sind die situationsbedingten Ressourcen für Regulation und Co-Regulation, da sind die sozialen Rahmenbedingungen, die zum Beispiel emotional und verstandesmäßig das Verhalten von Kindern und Eltern als passend oder unpassend bewerten und sich aber im Wandel befinden.
Deshalb scheint es oft ein Konflikt zwischen den Generationen zu sein, wenn Gefühle heute mehr Raum bekommen. Den älteren Generationen wird nachgesagt oder zugeschrieben, dass sie seltener Regulation, sondern eher das Unterdrücken und Beherrschen von Gefühlen gelernt haben.
Aus meiner Sicht ist auch das Unterdrücken eine Form der Regulation – sie ist auch in manchen Situationen die beste. Sie ist aber bei weitem nicht die einzige und sie birgt Risiken, wenn die unterdrückten Gefühle nie und nirgends Raum bekommen. So kommen Gefühlsausbrüche zustande und so werden Gefühle auf Dauer bedrohlich.
Den Raum für Gefühle miteinander halten als Herausforderung!
In gewisser Weise ist es also sogar gut, wenn Menschen sich über den deutlichen Gefühlsausdruck eines Kindes deutlich und laut äußern – sie zeigen ihre Gefühle, statt sie zu unterdrücken. Selbstverständlich ist auch bei Erwachsenen die Frage: Wann ist welcher Gefühlsausdruck angemessen und passend? Aber das ist eine Frage, die wir sozial miteinander verhandeln, die wir aushandeln und nicht eine, die philosophisch oder über Regeln eindeutig geklärt werden könnte.
"Gefühle - ganz schön stark!"
Der obige Text ist ein Beitrag aus dem FamilienPortrait-Magazin „Gefühle – ganz schön stark!“
Das FamilienPortrait ist der Newsletter von Familien begleiten, der wöchentlich als Email und 4x im Jahr als digitales Magazin erscheint.
Im Gefühle-FamilienPortrait kannst Du vertraute und ungewohnte Perspektiven auf Gefühle lesen – egal, von welcher Ecke des Erziehungsstil-Spektrums Du gerade auf das Thema Gefühle schaust. Denn meine Gäste und ich nehmen darin verschiedene Perspektiven ein: Würdigen die Art des Umgangs mit Gefühlen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten und setzen dem aktuellen Trend, Kinder als „gefühlsstark“ zu bezeichnen, eine ungewohnte, andere Perspektive entgegen.
Hannah Jesgarz, die mit mir die Kurse zu Gefühlen bei Familien begleiten erstellt hat, hat die Vermutung: „Die Kinder, die einen Raum haben, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, machen das auch.“ Rahel erzählt im Interview etwas über ihren Alltag mit Kindern, die viel Raum für ihre Gefühle bekommen und wie sie erlebt, dass dadurch auch ihr Umfeld etwas über Gefühle lernt.
Ergänzend zum obigen Text findest Du im Magazin auch 5 Gründe, wieso Gefühle in den letzten Jahren den öffentlichen Raum stärker einnehmen dürfen als das (scheinbar) vorher der Fall war. Außerdem gibt es Anregungen dafür, wie wir den Raum für Gefühle mitten im Gefühlssturm gelassen halten können, etwas Poetry, die Fortsetzung der Geschichte „Lisa aus der Taunusstraße“ für Kinder und Erwachsene, Netzfunde und einige meiner Zeichnungen als Printables zum Ausmalen und Aufhängen.