Bindungsorientiert kann man nicht erziehen
Ein Statement, Teil 2
Sie gilt als das Non-plus-ultra in der Bubble derer, die sich mit Erziehung beschäftigen: die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung (oft BO abgekürzt).
Ich habe damit als Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin zwei Probleme.
Erstens beziehen sich die verschiedenen Personen, die dazu in den verschiedenen Bubbles populär schreiben und reden, auf unterschiedliche Konzepte von Bindung und Bedürfnis. Das liegt nicht immer an der pädagogischen Qualifikation, sondern mehr noch an der „Weltanschauung„, wie es so schön heißt: dem, wie man über Menschen und die Welt denkt. Daraus resultieren Widersprüchlichkeiten in den Anregungen zum Alltag, die sich nicht ohne Weiteres auflösen lassen und Stress verursachen.
Mein zweiter Punkt ist inhaltlich begründet. Denn Bindung und Erziehung sind zwei Herangehensweisen an die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehen. Daraus resultiert ein weiterer fieser Widerspruch zu Bindungsorientierter Erziehung, den Eltern und ihr Dorf oftmals nur spüren. Wegen diesen Widerspruch werden jedoch die Konzepte Bindungs- und Bedürfnisorientierung online und offline hoch und runter diskutiert.
Ich möchte in zwei Beiträgen auf diese beiden Probleme eingehen und meine Position dazu deutlich machen.
Dieser Beitrag erklärt, warum ich Bindungsorientierte Erziehung als „Quatsch“ bezeichne.
Den anderen Beitrag, in dem ich verschiedene Verständnisse und Konzepte von Bindung und Bedürfnissen darstelle und erkläre, warum ich mich z.B. von inBindung und dem dahinter stehenden Konzept von Neufeld/Gabor Mate‘ abgrenze, findest Du hier.
Erziehungssituationen: gut Reagieren unter Druck
Du kennst sie, diese kleinen großen und anstrengenden Situationen im Alltag, in denen man sich fragt, wie man in ihnen bindungsorientiert erziehen soll:
Klara (8 Jahre) soll ihr Zimmer aufräumen, tut das aber nicht.
Paul (5) entreißt dem kleinen Bruder Erik (3) ein Spielzeug.
Lisa (10), Emilia (8) und Finn (6) erzählen beim Abendessen gleichzeitig der Mutter von ihrem Tag.
Natalie (7) und Karl (5) sollen ihre Schlafanzüge anziehen und drehen dabei richtig auf – und das jeden Abend!
Ja, Du kennst sie, diese Situationen. Vielleicht nicht alle, vielleicht nicht aus eigener Erfahrung, aber Du kennst sie.
Wenn Du ein wenig in der bindungs- und bedürfnisorientierten (BO) Bubble unterwegs bist, haben sich in Deinem Kopf beim Lesen wahrscheinlich Begründungsideen geformt, warum die Kinder wohl jeweils so handeln (also welches Bedürfnis möglicherweise dahinter steckt).
Vermutlich hast Du auch Vorstellungen davon, wie man den unzähligen Beiträgen zu BO nach darauf reagieren sollte: nämlich zugewandt, freundlich und dennoch klar. Bindungsstärkend, Bedürfnisse achtend (natürlich die von allen Beiteiligten) und gewaltfrei.
Mit Sicherheit denkst Du: Wow, genau so sollte Erziehung sein!
Vielleicht schleicht sich aber bei dieser Zusammenfassung auch ein dumpfes Gefühl von Druck und Hilflosigkeit bei Dir ein, weil Du das alles natürlich auch willst, es aber genau diese oder ähnliche Situationen sind, in denen Du Dich fragst: Wie soll das denn ganz konkret gehen mit der Bindungsorientierten Erziehung?! Und wie schafft man das, wenn man nicht nur ein Kind hat, sondern zwei oder gar drei (oder noch mehr)?!
Wie macht man das, ohne an die eigenen Grenzen zu kommen und dann auszurasten?
Wie macht man das bei Paul, der ein Spielzeug nicht mit dem Bruder Erik teilen möchte und es ihm entreißt?
Eine klassische Erziehungssituation, denn die Werte des Vaters oder der Mutter oder einer anderen Bezugsperson entscheiden nun darüber, mit welcher Methode welches Erziehungsziel erreicht werden soll.
Soll Paul lernen zu teilen oder Erik lernen, den Besitz seines Bruders zu respektieren? Sollen beide lernen, miteinander zu spielen statt gewaltvoll Dinge zu nehmen/zu entreißen?
Je nach Alter und Fähigkeiten der Kinder würden die Eltern einschreiten oder die Kinder ihren Konflikt selbst lösen lassen. All diese Entscheidungen und Einschätzungen laufen im Bruchteil von Sekunden unbewusst ab.
Denn zum Druck durch das Ideal kommt der Handlungsdruck: es gibt keine Zeit zum Nachdenken, wie man jetzt richtig bindungs- und bedürfnisorientiert reagiert.
Man muss jetzt handeln. Gleich ist schon zu spät – aber gleich ist manchmal schneller da als die gute bindungs-/ bedürfnisorientierte Idee.
Meine Pädagogik-Lehrerin sagte immer:
"Erziehung ist ein Real-Experiment."
Und in diesem Experiment machen viele Eltern heute eine Versuchsreihe nach der anderen zu Bindungs- und Bedürfnisorientierter Erziehung. Weil diese Art der Erziehung ja (fast?) allen Expert:innen zufolge das beste für Kinder ist.
Nämlich zum Beispiel bei Klara, die ihr Zimmer aufräumen soll, das aber nicht tut.
Bindungsorientierte Eltern könnten zum Beispiel zu Klara sagen: „Es tut mir Leid, Klara, dass Du jetzt aufräumen musst. Ich verstehe, dass Du viel lieber spielen möchtest. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam aufräumen und danach zusammen etwas spielen?“
Oder sie könnten sich zu Klara setzen und fragen: „Was machst Du denn gerade?“ Und nach einer Weile zuschauen und zuhören würden sie dann sagen: „Ich möchte, dass Du jetzt Dein Zimmer aufräumst. Sollen wir das zusammen machen?“
Das klingt doch nett, oder?
Also ich finde, es klingt zumindest auf den ersten Blick sehr freundlich!
Und ehrlich gesagt auch nach viel Zeit. Nach genügend emotionalen Ressourcen.
Nach einem Einfühlungsvermögen, das viele der heutigen Eltern sich von ihren Eltern gewünscht hätten.
Oder Pauls Mutter könnte zu Paul sagen: „Oh, Du wolltest gerade wirklich gerne mit dem Spielzeug spielen, das Dein kleiner Bruder hatte. Schau mal, jetzt ist er ganz traurig. Er hat sich erschrocken, dass Du ihm das Spielzeug weggenommen hast. Wolltest Du das?“
Und wenn Natalie und Karl am Abend noch mal so richtig aufdrehen, könnte ihr Vater zu ihren sagen: „Ich merke, dass ihr noch ganz aufgeregt seid vom Tag. Wollt ihr mir erzählen, was heute los war?“ Oder er vermutet, dass sie mitentscheiden wollen und bietet ihnen an, eine Zeit zu vereinbaren, in der sie noch spielen und toben dürfen.
BO ist voraussetzungsvoll
All diese Reaktionen klingen enorm reflektiert und in meinen Ohren ehrlich gesagt etwas unrealistisch für die meisten normalen Tage in einer Familie.
Zumal in der einen Situation das jüngere Kind vermutlich weint und bei der Mutter Trost sucht und sie sich um zwei unterschiedliche Bedürfnisse gleichzeitig kümmern muss.
Nora Imlau beispielsweise weist immer mal wieder darauf hin, dass es Ressourcen braucht, um bindungs- und bedürfnisorientiert reagieren zu können.
Viele Eltern haben diese Ressourcen nicht, nicht ausreichend oder nicht zuverlässig. BO wird dann leicht zu einem Ideal, das einen hohen Druck ausübt, wenn man ihm nicht gerecht wird.
Aber dass es schwierig zu erreichen ist, war noch nie ein Argument gegen ein Ideal. Zumal es ja dann trotzdem schon mal für alle gelten könnte, die über die entsprechenden Ressourcen verfügen.
So richtig problematisch an den beschriebenen Reaktionen der Eltern sind aus meiner Sicht nicht die Sätze selbst, sondern dass in dieser Art des Umgangs mit Kindern das ganze Konzept von bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehung besteht.
Das Konzept von BO-Erziehung
In der BO werden Belohnungen, Bestrafungen und Konsequenzen abgelehnt. Das Konzept basiert allein auf der Kooperationsbereitschaft der Kinder – und der Eltern.
BO setzt voraus, dass alle Verweigerung von Kooperation auf unerfüllte Bedürfnisse oder fehlende Bindung hinweist.
Sobald das Bedürfnis erfüllt oder die Bindung sicher ist, ist Kooperation nicht nur möglich, sondern der Normalfall. Denn Kinder sind im Grunde gut und nur die böse Umwelt und darin vor allem die bösen Erwachsenen hindern sie daran, kooperieren zu wollen.
Die Verantwortung dafür, dass Kinder kooperieren können, liegt also in der Hand der Erwachsenen.
So könnte man ganz knapp der Ansatz von BO zusammenfassen.
Das Ziel ist dabei, Selbstbestimmung zu fördern und körperliche, emotionale, psychische oder wie auch sonst bezeichnete Gewalt zu verhindern. Bindungs- und Bedürfnisorientierte Erziehung soll die Bindung und Beziehung zwischen Eltern und Kindern nicht belasten und Kindern eine glückliche Kindheit und erfolgreiche Zukunft ermöglichen.
Ich behaupte aber, dass die BO-motivierten Erziehungsexperimente letztlich genau das tun, was sie verhindern wollen:
Sie nutzen die Eltern-Kind-Beziehung als Mittel in der Erziehung. Oder noch drastischer formuliert: Sie gebrauchen die Beziehung – ohne es zu wollen! – als Machtmittel, um Kooperation durchzusetzen.
Die Beziehung wird zum Mittel der Manipulation und die Bedürfnisse zum Ansatzpunkt der Entmutigung.
Denn das Ziel ist, dass die Bezugsperson das Gefühl hat, die Bindung zum Kind aufrechterhalten zu haben.
Echte Bindung ist aber die Reaktion auf vom Kind gezeigtes Bindungsverhalten.
Und Erziehung setzt Beziehung voraus, die auf einem Bindungsmuster beruht. (Mehr dazu im ersten Teil des Statements hier.)
Warum und wie wirkt BO manipulativ und entmutigend?
1. Weil Erziehung auf einem Machtgefälle beruht. BO tendiert dazu, das Machtgefälle zu kaschieren und bindet die Kinder dadurch manipulativ an die Eltern.
Im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sind die Eltern immer mächtiger (auch wenn ich verstanden habe, dass es sich nicht immer so anfühlt). Die BO möchte durch Betonung der Bindung und Berücksichtigung der Bedürfnisse dieses Machtgefälle ausgleichen und vermeiden, dass bei den Kindern ankommt: „Die Eltern sind am längeren Hebel.“
Doch dieser Versuch ist selbst machtvoll (was ok ist): die Eltern entscheiden einseitig, dass (bzw. wann und wie weit) sie mit dem Kind auf Augenhöhe gehen.
Aber sie binden ihr Kind durch die Berücksichtigung seiner Bedürfnisse emotional an sich (was erklärtes Ziel ist) und kommunizieren: „Du bekommst bei mir, was Du willst!“
Dem Kind wird es damit erschwert, in der Beziehung auf Distanz zu gehen (also Autonomie zu üben), denn das fühlt sich schlechter an, wenn einem in der Sache zugewandt begegnet wird.
Schnell wird aus einer erzieherischen Situation für ein Kind dann ein existentieller Konflikt, in dem Autonomie (zum Beispiel in Form der Weigerung zur Kooperation) mit Gewinnen und Verlieren verbunden wird und zum Risiko wird.
Das gilt vor allem dann, wenn Bindung als Nähe interpretiert wird und vielleicht sogar mit völliger Übereinstimmung oder Konsens verknüpft ist.
Ein Kind kann in diesem Fall nicht in die Distanz zum Erwachsenen gehen, weil das eine Störung der Bindung bedeuten würde.
Klara wird in beiden oben genannten Beispielen durch die betonte Freundlichkeit der Eltern und durch das Angebot von Nähe zur Kooperation manipuliert.
Sie wird außerdem in der Beziehung entmutigt. Wenn die Eltern von Klara die zweite Form der Ansprache verwendet und Klara erst einmal zugehört haben, weil sie gelernt haben, dass das „funktioniert“, weil Kinder dann eher kooperationsbereit sind, stellt sich für Klara möglicherweise unterbewusst die Frage, wie ernst das Interesse an ihrem Tun wirklich war oder ob es nur ein „Mittel zum Zweck“ war.
In anderen Kontexten nennen wir diese Art des Beziehungsaufbaus zwischen unterschiedlich mächtigen Menschen „abhängig machen“.
Weil Kinder sowieso abhängig sind, können sie dem nichts entgegensetzen. Der Frust darüber entlädt sich in umso heftigeren Abgrenzungen.
2. Weil das Autonomiebedürfnis durch Einverständnis und Kooperationsangebote untergraben wird, werden Kinder in ihrer Abgrenzung entmutigt und müssen sie stärker äußern.
Eine Abgrenzung (aus welchen Gründen auch immer und ich unterstelle: manchmal einfach aus Prinzip und zum Ausprobieren) ist umso schwieriger, je stärker betont wird, wie nah und wie gut man sich ist.
Eltern, die die Autonomie ihres Kindes als Befürfnis ansehen und diesem Bedürfnis immer (oder immer öfter) verständnisvoll entgegenkommen, die dem Kind nur dann etwas entgegensetzen, wenn es nicht anders geht, bieten den Autonomiebestrebungen eigentlich keine Fläche.
Denn Autonomie ist für ein Kind keine Autonomie, wenn sie nicht durch Reibung als Abgrenzung erfahrbar ist.
Und die muss umso deutlicher ausfallen, damit sie als Abgrenzung anerkannt wird, je mehr die Eltern (die eigentlich das Gegenüber in der Erziehungs-Beziehung sein sollen) sich auf die Seite des Kindes stellen und Diskrepanzen durch sich zurücknehmen „auflösen“.
Nehmen wir das Beispiel von Natalie und Karl, die sich nicht bettfertig machen, sondern aufdrehen. Sie vereinbaren mit dem Vater eine Zeit, wie lange sie noch spielen und toben dürfen. Das ist klassisch BO-Erziehung.
Vielleicht halten sie sich daran. Dann kann das ihrer grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft oder /und guten Erfahrungen geschuldet sein oder auch schlechten Erfahrungen, die sie gelehrt haben, lieber nicht weiter Autonomie zu proben.
Vielleicht aber haben sie eine sichere Bindung und fühlen sich sicher und risikobereit genug, um die Grenzen ihrer Autonomie zu erforschen (Exploration). Sie hören während der vereinbarten Zeit auf zu toben (denn das erzeugt keine Reibung), sondern spielen ganz toll miteinander. Als es Zeit ist, betteln sie, weiterspielen zu dürfen oder laufen weg oder ziehen Grimassen – ihnen fällt schon etwas ein, um weiterzuspielen.
Damit signalisieren sie dem Vater aber auch: „Du bist nicht glaubwürdig in Deiner Erziehungsrolle, so lange Du Dich und uns nicht ernst nimmst und einforderst, dass unsere Vereinbarungen gelten.“
Eltern aus der BO-Bubble feiern solches Verhalten oft insgeheim oder im Nachgang als „so autonom und willensstark„, vielleicht auch als „gefühlsstark„.
Doch haben sie dieses Verhalten „heraufbeschworen„, indem sie weder sich noch die Kinder als Beziehungspartner ernst genommen haben.
Im Kern ist das entmutigend für eine auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung von Personen, die auf der Basis von inneren Beziehungsmodellen relativ autonom handeln.
Und gelöst ist die Situation dann auch noch nicht, denn sie wird sich ja wiederholen.
Dieser Hintergrund erklärt übrigens nicht nur, warum Kinder so vehement kommunizieren, was sie wollen – und zwar jetzt! – sondern auch, warum BO-Eltern regelmäßig davon berichten, dass sie irgendwann plötzlich ausrasten: weil sie Richtung Kooperation arbeiten, während das Kind nach echter Autonomie strebt.
Sowohl das Ausrasten der Eltern als auch das das starke Kommunizieren der Kinder kostet enorm viel Kraft – emotional, sozial, körperlich – und fühlt sich nicht gut an.
Für das Kind ist es außerdem riskant. Es hat keinen ihm bekannten oder erkennbaren Einfluss darauf, wann die Geduld der Eltern vorbei ist und sie ihre Machtposition wieder einnehmen.
So sehr das Kind die Machtposition in diesem Moment fürchten muss, so sehr braucht es gleichzeitig, dass die Eltern ihre Rolle einnehmen und ihm dadurch Halt und Orientierung geben.
Irgendwann muss jedoch der Vater in seine Erzieherrolle gehen und für hier und jetzt die Grenze kommunizieren. Wie macht er das dann bindungs- und bedürfnisorientiert?
3. Weil in der BO Konsequenzen, Strafen und Belohnungen abgelehnt und tabuisiert werden, haben Eltern wenig offen erzieherische Mittel zur Verfügung und nutzen dann alte Muster aus dem Affekt oder reden so lange auf das Kind ein, bis es derselben Meinung ist wie sie.
Die eben aufgezählten Mittel sind verpönt, können also nicht offen und mit gutem Gewissen gezielt eingesetzt werden. Das bedeutet nicht, dass Eltern sie nicht nutzen, sondern dass sie sie im Alltag immer aus dem Affekt nutzen und hinterher ein schlechtes Gewissen haben, das sich auch den Kindern vermittelt.
Strafen, Konsequenzen und Belohnungen werden in ihrer negativen Bewertung in einen Topf geworfen und dienen als letztes Mittel der Abgrenzung und Machtdurchsetzung der Eltern, nachdem das auf anderem Wege nicht erreicht werden konnte.
Ausrasten, Anschreien und fiese Worte, einfangen und fest anpacken sind gewaltvolle Erziehungsmittel, die den meisten Kindern nicht unbekannt sind.
In der Tatsache, dass die Eltern diese Erziehungsmittel klar als falsch kennzeichnen und sie im Affekt trotzdem anwenden, sehe ich einen ungewollten Rückzug aus der Bindungs- und Bedürfnisorientierung in das Machtgefälle der Erziehung, die dadurch umso schlimmer und unberechenbarer erscheint.
Der Geduldsfaden reißt, wenn das Kind nicht wie erwartet kooperationsbereit ist.
Würde das Kind früher kooperieren, müssten die Eltern nicht zu diesen falschen und schrecklichen Methoden greifen. Und das kommt als Botschaft dann auch bei den Kindern an – ohne, dass die Eltern das sagen oder sagen wollen: „Je früher ich aufmerksam bin für die Signale meiner Eltern, umso besser für mich, denn dann rasten die Eltern nicht aus.“
Und natürlich können sie auch den umgekehrten Schluss ziehen: „Wenn ich nicht aufmerksam bin für die Signale meiner Eltern, rasten sie aus. Aber das wollen wir doch mal sehen, wer wie lange durchhält!“ Und schon sind wir mitten im schönsten Machtkampf, der doch verhindert werden sollte.
Das könnte bei Lisa, Emilia und Finn der Fall sein, wenn die Mutter lange aushält, dass die Kinder auf sie einreden und versucht, allen zuzuhören. Vielleicht versucht sie auch, durch Mimik, Gestik und Blickkontakt auf die Größeren einzuwirken, dass sie erst mal dem Kleinen zuhören sollen, bis es ihr zu viel wird und sie irgendwann laut schreit: „Jetzt hört alle endlich mal auf, durcheinander zu reden!“
Nur um sich dann schlecht zu fühlen, denn das wollte sie ja nicht. Und um sich dann mit doppelter Aufmerksamkeit den Kindern zuzuwenden, um das Anschreien wieder gut zu machen und die Bindung zu stabilisieren.
Und vielleicht fügt sie dann noch eine Erklärung hinzu, die sie früher auch schon so hätte machen können: „Ihr wollt doch alle, dass ich euch zuhöre. Das geht nicht, wenn ihr alle durcheinander redet. Jetzt redet immer nur ein Kind und wir hören alle zu.“
No mom-shaming hier – es geht mir um die Illusion, die BO vermittelt, dass eine zugewandte und geduldige Art des Umgangs mit Kindern diese von selbst darauf kommen, wie Gemeinschaft funktioniert.
Doch während Kinder in der BO – Erziehung einerseits schon sehr früh bei Fragen, die ich für überfordernd halte, an Verantwortung herangeführt werden, wird ihnen andererseits zu lange keine Verantwortung für das Einhalten von Grenzen in sozialen Situationen oder die selbständige Regulation ihrer Gefühle zugemutet.
Dies wird von den Eltern als feinfühlige Co-Regulation übernommen. Ohne die Fähigkeit, sich selbst oder mit Hilfe anderer Kinder zu regulieren (ohne dabei auf einen Erwachsenen angewiesen zu sein), speichern Kinder in ihrem Selbstverständnis diese Angewiesenheit auf andere ab und erleben sich nicht als verantwortlich. Das halte ich für entmündigend und entmutigend.
Trägt die Bindung unsere Beziehung mit allen Konflikten? Gefühlte Wahrheiten
Bindungs- und bedürfnisorientiert erzogene Kinder erleben, wie in den Situationen, in denen die Bindung tragen soll, die Eltern selbst sie fokussieren und dadurch ihre Sicherheit in Frage stellen. Denn wäre sie sicher, bräuchten Eltern sie nicht stabilisieren, sondern könnten auf sie zählen. Dass sie sie infrage stellen, wird sichtbar daran, dass Eltern von sich aus ein „Versorgungsangebot“ machen, bevor die Kinder ihre Bedürfnisse äußern konnten.
Entschieden wird über die Sicherheit der Bindung auf Basis von Gefühlen: Eine Situation ist dann „gut“, wenn Bedürfnisse erfüllt sind und Bindung sich intakt und sicher anfühlt. Doch eine Bindungsqualität kann nicht anhand von solchen einzelnen Situationen beurteilt werden.
Die radikale Ablehnung von Verhaltensorientierung in der Erziehung und die Verlagerung des Fokus‘ auf die Gefühle wird dem kindlichem Erleben von Welt nicht gerecht. Denn in ihrem konkret-operationalen Umgang mit der Welt, die sie entdecken, ist ihr Gefühl immer in Verhalten ausgedrückt.
Reflexion von Gefühlen muss dementsprechend weniger kognitiv und stärker verhaltensorientiert sein. Und auch die Regulation von Gefühlen wird mehr auf der Basis von Verhalten als auf der Basis von Durchdenken liegen.
An dieser Stelle sind sowohl klassische Aufträge an Kinder („Denk mal darüber nach, was Du gemacht hast“) als auch modern bindungs- und bedürfnisorientierte Ansätze („Wie fühlt sich das wohl für Deinen Bruder an?“) kritisch zu bewerten.
Es wächst also die Unsicherheit, die in der BO vermieden werden soll und zwar nicht nur in Bezug auf die Bindung, sondern auch in Bezug auf die erzieherische Sache. Sie gerät gegenüber der Aushandlung zur Beziehung vollkommen in den Hintergrund, weshalb ich der Meinung bin, dass es nicht sinnvoll ist, über Bindungsorientierte Erziehung zu sprechen.
Zusammengefasst
Es ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll, von bindungsorientierter Erziehung zu sprechen: es werden dabei zwei Begriffe mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen vermischt.
Erziehung beschreibt das Verhalten eines Erwachsenen mit dem Ziel der Beeinflussung des Kindes und setzt voraus, dass eine Beziehung besteht, die von einem klaren Abhängigkeitsverhältnis geprägt ist.
Bindung beschreibt ein Verhaltensmuster in Beziehungen, mit dem Nähe und Distanz zwischen zwei Menschen wechselseitig reguliert wird.
Bindungsorientierte Erziehung verbindet also eine einseitig motivierte werteorientierte Einflussnahme auf der Basis von einem Machtverhältnis mit einem wechselseitigen Verhaltensmuster der Reaktion auf gezeigtes Verhalten auf der Basis von Bedürfnissen.
Kann man machen, aber dabei wird man immer eins von beiden vernachlässigen.
Entweder muss das erzieherische Handeln die Bindung stärken und kann dann nicht mehr erzieherisch wirken
oder das erzieherische Handeln bedient sich des Bindungsverhaltens, um das erwünschte Verhalten zu bewirken.
In beiden Fällen können Kinder überfordert, entmutigt and manipuliert werden. Sie werden zu Objekten des Handelns der Erwachsenen.
Das sind harte Worte, ich weiß.
Und ich bin fest davon überzeugt, dass das niemand will.
Gerade die Vermeidung dieser Dinge ist ja das eigentliche Ziel, mit den Vertreter:innen der BO antreten.
Wie Erziehung auch gesehen werden kann
Es wird meines Erachtens gerade durch Erziehung ein Raum geschaffen, in dem das bestehende Machtverhältnis einen guten Rahmen bekommen kann.
Darin kann ein Kind auf Distanz zu den Eltern gehen und sich dem Erziehungsziel verweigern, ohne dass dadurch die Bindung in Frage gestellt wird. Diese Erfahrung ist extrem wichtig.
Wenn Belohnung, Bestrafung und Konsequenzen nicht auf der Ebene der Beziehung stattfinden, sondern sich um das entsprechende erzieherische Thema drehen und angemessen eingesetzt werden, können sie hilfreiche Erziehungsmittel sein.
Dann wird es möglich, dem Kind zu kommunizieren: „Grundsätzlich entscheide ich (sitze ich am längeren Hebel), aber ich beteilige Dich unter bestimmten Bedingungen und mit einer bestimmten Reichweite an der Verantwortung für diese Situation.“
Also im Beispiel von Klara: „Ich habe Dir gesagt, dass Du aufräumen sollst und wenn ich das sage, möchte ich, dass Du das tust. Gerne können wir darüber sprechen, wann Du es machst und was Dir dabei hilft. Du darfst auch entscheiden, dass Du nicht aufräumst, das ist okay für mich. Dann entscheidest Du aber gleichzeitig, dass ich das tue, denn dass aufgeräumt wird, stelle ich nicht zur Debatte frei. Ich werde aber eine andere Ordnung haben als Du, damit wirst Du dann umgehen müssen.“ (Oder „ich werde gleichzeitig aussortieren“ oder was auch immer der Aufräumstil des Elternteils ist.) „Du darfst auch entscheiden, dass Du dann sauer auf mich bist. Das ändert nichts daran, dass ich Dich lieb habe.“
Das zu kommunizieren ist offensichtlich Macht. Aber sie beruht auf einer Tatsache und akzeptiert sie nicht nur ehrlich und gelassen als etwas Legitimes, sondern benennt die Realität ruhig, bewusst und klar.
Sie ist weder Machtmissbrauch, weil sie die Situation nicht zum eigenen Vorteil ausnutzt, noch Manipulation, weil sie offenlegt, wozu das Kind gebracht werden soll.
Gerade in der Klarheit der Machtsituation liegt das Potential zur Autonomie.
Erziehung ist ein Recht,
das jedes Kind in Deutschland laut SGB VIII hat
und zwar
Erziehung zu einer
selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
Erziehung muss also zutrauen und zumuten,
Verantwortung für sich selbst
und das eigene Handeln im Rahmen von Beziehungen
altersangemessen zu tragen.