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Bindungsorientierte Erziehung: ein Statement in zwei Teilen

Sie gilt als das Non-plus-ultra in der Bubble derer, die sich mit Erziehung beschäftigen: die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung (oft BO abgekürzt).
 
Ich habe damit als Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin zwei Probleme.
 
Erstens beziehen sich die verschiedenen Personen, die dazu in den verschiedenen Bubbles populär schreiben und reden, auf unterschiedliche Konzepte von Bindung und Bedürfnis. Das liegt nicht immer an der pädagogischen Qualifikation, sondern mehr noch an der „Weltanschauung“, wie es so schön heißt: dem, wie man über Menschen und die Welt denkt. Daraus resultieren Widersprüchlichkeiten in den Anregungen zum Alltag, die sich nicht ohne Weiteres auflösen lassen und Stress verursachen.
 
Mein zweiter Punkt ist inhaltlich begründet. Denn Bindung und Erziehung sind zwei Herangehensweisen an die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehen. Daraus resultiert ein weiterer fieser Widerspruch in Bindungsorientierter Erziehung, den Eltern und ihr Dorf oftmals nur spüren. Wegen diesem Widerspruch werden jedoch die Konzepte Bindungs- und Bedürfnisorientierung online und offline hoch und runter diskutiert.
 
Ich möchte in zwei Beiträgen auf diese beiden Probleme eingehen und meine Position dazu deutlich machen.
 
Dieser Beitrag dreht sich um die unterschiedlichen Konzepte von Bindung und ich erkläre, warum ich mich von welchem Verständnis abgrenze.
 
Den zweiten Beitrag mit dem Titel „Warum ich Bindungsorientierte Erziehung als Quatsch bezeichne“ findest Du hier.

Hauptsache, sicher gebunden! Oder etwa nicht?!

Das Wissen um die Bedeutung von Bindung ist in der Breite der Gesellschaft angekommen und zum Leitmotiv der heutigen Elterngenerationen geworden.
Doch wird dabei zumeist ausschließlich von „sicherer Bindung“ gesprochen – obwohl es mehr als nur dieses eine Bindungsmuster gibt. Meist wird Bindung auch als Thema für Mütter gedacht – und der Vater ist natürlich mitgemeint. Und dass Bindung mehr ist als Nähe, ist den wenigsten bewusst, genau wie die Tatsache, dass hinter den vielen Beiträgen zu Bindungs-, Beziehungs- und Bedürfnisorientierung verschiedene Vorstellungen von Bindung, Beziehung und Bedürfnissen stehen.
 
Dieser Beitrag soll daher eine Orientierung bieten, wie ich bei Familien begleiten Bindung verstehe und von welchen Aussagen rund um Bindungs- und Bedürfnisorientierung ich mich distanziere.
Wer sich von mehreren Menschen inspirieren lässt, die sich selbst als bindungs- und/oder bedürfnisorientiert erziehend beschreiben, erkennt nicht gleich, dass die Worte Bindung oder Bedürfnis nicht überall dasselbe meinen. Weil diese Worte positiv besetzt sind, werden die vertretenen Ansichten recht unkritisch als typisch Bindungs- und Bedürfnisorientiert übernommen oder angesehen.
Das ist auch mir schon passiert, weil es oft schwierig ist, herauszufinden, von welchem Bindungsverständnis jemand ausgeht.
Mein Problem dabei ist, dass Leser:innen mit dem Druck, dem Anspruch und dem aus den Widersprüchlichkeiten der Theorien resultierenden Stress alleingelassen sind. In Kommentarspalten zum Thema wird oft nicht differenziert, sondern eher entlang der Linie „Bist Du BO oder nicht?“ diskutiert.

Was Bindung nach John Bowlby ist

Bindung.
Substantiv. Muster für die Regulation von Nähe und Distanz zwischen Säugling und Bezugsperson. Unterschiedliche Qualitäten. Grundlage für Arbeitsmodell von Beziehungen. 
Möglicherweise irritiert in dieser Definition das Wort Distanz.
Doch es geht bei der Entwicklung von Bindung genau darum: ein inneres Modell dafür zu finden, wie man von seinen Bezugspersonen distanziert/getrennt und dennoch mit ihnen verbunden sein kann
und umgekehrt gleichzeitig verbunden und dennoch unterschiedlich sein kann.
Bei Bindung geht es also nicht darum, möglichst viel Nähe herzustellen oder zu behalten, sondern darum, Nähe und Distanz miteinander so zu gestalten, dass die Verbindung hält. Dafür entwickelt sich vor allem in den ersten 18 Lebensmonaten ein grundlegende Bindungsmuster eines Menschen ausgebildet. Es ist ab da relativ stabil, wenn auch veränderbar.

Unterschiedliche Qualitäten

Die Bindungsforschung unterscheidet vier Bindungsmuster: sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent sind die drei Formen, die sich bei Kindern üblicherweise ausbilden. Wie bei aller sozialwissenschaftlichen Forschung geht es auch bei der Bindungsforschung zunächst um Beschreibung und nicht um Bewertung. Das Wort „unsicher“ ist dementsprechend erst mal keine Wertung, sondern eine Beschreibung. Sie bedeutet, dass das Verhalten, mit dem Kind und Bezugsperson aufeinander reagieren, nicht zuverlässig gleich ist.
 
Unsicher-desorganisiert ist das einzige als „pathologisch“, also ungesund, zu wertende Bindungsmuster, das als Störung in allen Bindungsmustern auftreten kann.
 
Die meisten Menschen sind laut Bindungsforschung sicher gebunden, nur ca. 5% sind unsicher-desorganisiert gebunden, wie eine schnelle Online-Suche meine Erinnerung aus Studientagen bestätigt.
 
Das große Ziel einer „guten Bindung“ bräuchte Eltern also gar nicht so viele Sorgen bereiten. Der starke Fokus auf eine „gute Bindung“ führt aus meiner Sicht sogar dazu, dass Eltern (bzw. aus verschiedenen Gründen vor allem Mütter) ihre Kinder an sich binden (wollen/sollen). Doch Bindung geht eigentlich vom Kind aus. 

Wie entwickelt sich Bindung?

Die Entwicklung eines sicheren Bindungsmusters braucht idealtypisch folgende Dinge:
Ist irgendetwas davon nicht bzw. nicht zuverlässig gleich gegeben, entwickelt sich eins der unsicheren Bindungsmuster. Das ist aber kein Anlass zur übermäßigen Sorge, solange sich kein unsicher-desorganisierte Bindungsmuster ausbildet. Und dafür sind z.B. traumatische Erfahrungen ausschlaggebend.
 
Bindung und Beziehung sind dementsprechend kein Zustand im Sinn von „entweder da oder nicht da“ und erst Recht nicht bipolar im Sinn von „entweder Nähe oder Abstoßung“. Es lohnt sich, bei Formulierungen in den Sozialen Medien für diese Unterscheidung aufmerksam zu sein.
 
Ein Bindungsmuster baut sich auf und entwickelt sich im Wechselspiel von Nähe und Distanz auf der Basis einer Interaktion, also eines Verhaltens von Kind und Bezugsperson(en). 

Bindung ist ein Muster zur Regulation von Nähe und Distanz

In Beziehungen zwischen Menschen geht es im Kern um die Frage:
Wie nah können wir uns sein, ohne dass jeder sich im anderen verliert und wie distanziert können wir sein, ohne dass wir einander verlieren?
 
Das „Bindungsmuster“ beschreibt die grundlegende und erste Antwort, die in der frühesten Kindheit durch die Reaktionen der Bezugsperson(en) auf das Bindungsverhalten der Säuglinge gelernt wird. Im Alter von ca. 18 Monaten ist es so weit ausgebildet, dass es eine dieser Antworten geben würde:
 
„Selbst wenn wir getrennt sind (d.h. die erwachsene Person nicht im Blickfeld des Säuglings ist), siehst Du mich und hast mich im Blick“, sagt die sichere Bindung. „Und wenn wir einander nah sind, respektierst Du, dass meine Bedürfnisse von Deinen verschieden sind. Ich bin am Iiebsten in Deiner Nähe und ich kann kurz auch ohne Dich sein.“
 
„Ich bin mir nicht sicher, ob Du mich siehst. Wenn Du nah bist, kann ich nicht sicher sein, dass Du meine Bedürfnisse erfüllst. Deshalb sorge ich lieber selbst für mich und bleibe auf Distanz. Ich zeige Dir, wenn ich in Deiner Nähe sein möchte, ansonsten bin ich in der Distanz sicherer“, antwortet der unsicher-vermeidende Bindungstyp.
 
„Ich kann mir nie sicher sein, ob Du mich siehst und meine Bedürfnisse erfüllst. Mal tust Du es, mal nicht. Deshalb bin ich ambivalent und suche manchmal Nähe, manchmal lehne ich sie ab“, wäre die Antwort des unsicher-ambivalenten Bindungtyps.
 
Diese verschiedenen Antworten sind alle das Ergebnis eines Prozesses und im Rahmen einer gesunden Entwicklung. Es gibt mehr „normale“ Bindungsmuster als nur die sichere Bindung. Das beruht auch auf der Tatsache, dass die beteiligten Erwachsenen sich in die Interaktion mit dem Kind auf der Basis ihrer eigenen Bindungsmuster und Arbeitsmodelle von Beziehungen einbringen. Und das ist vollkommen okay so.
Es geht dabei auch nicht um einzelne Situationen, sondern um die Summe der Erlebnisse. Dass Bezugspersonen nicht immer zu 100% verfügbar sind und prompt und angemessen reagieren, führt nicht gleich zu einem unsicheren Bindungsmuster.
 
Wenn mehr als eine Bezugsperson da ist, bildet sich in der Regel das Bindungsmuster mit der primären, also zeitlich, räumlich und emotional stärker verfügbaren Bezugsperson aus. Doch üben die weiteren Bezugspersonen auch Einfluss aus und können einander in der Reaktion auf das Bindungsverhalten und die Bedürfnisse des Säuglings ergänzen.
Bindung ist insofern im Verständnis der Bindungstheorie keine exklusive Nähe, sondern die Fähigkeit, in Nähe und Distanz als voneinander getrennte Personen verbunden zu sein.

Reaktionen auf das Verhalten des Säuglings

Wenn ein Kind geboren wird, zeigt es in der Regel von Anfang an Bindungsverhalten, z.B. Arme ausstrecken, Bezugspersonen beobachten und anschauen, später dann auch Lächeln. Dieses Bindungsverhalten ist auf Nähe angewiesen: Babys können bei der Geburt nur das fokussieren, was ca. 20-30cm von ihren Augen entfernt ist. Gesehen werden und körperliche Nähe spüren ist dabei für den Säugling der Beweis der eigenen Existenz.
Bindungsverhalten ist also existentiell, das heißt der Säugling erlebt durch die Reaktion auf der emotionalen und psychischen Ebene, dass es ihn gibt.
 
Neben dem auf Bindung angelegten Verhalten signalisiert der Säugling auch Bedürfnisse oder besser: er lässt die Umwelt wissen, wenn seine Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind (Hunger bzw. Durst, Wärme oder Kälte, Müdigkeit, Schmerzen). Auch das ist existentiell. Es sichert das Überleben auf physischer und psychischer Ebene.
 
Dieses Bild des aktiven und handelnden, wie Jesper Juul es später nannte „kompetenten Kindes“, war zu Bowlbys Zeit revolutionär. Kinder wurden gesellschaftlich eigentlich als inkompetent, unfertig, gefühllos und somit minderwertig angesehen. Natürlich galt das nicht überall und für jeden, aber das medizinisch und psychologisch vorherrschende Bild vom Kind war das von triebgesteuerten Wesen, die erst durch Erziehung zu sozialen Wesen gemacht werden müssten.
 
Es ist zunächst nicht entscheidend, wer auf das gezeigte Bindungsverhalten reagiert, wichtiger ist, dass es prompt und angemessen passiert. Im Verlauf der Entwicklung fokussiert sich Bindungsverhalten dann zunehmend auf einige wenige Bezugspersonen (in der Literatur manchmal primäre und sekundäre Bezugspersonen genannt).
Das heißt: für die Entwicklung einer sicheren Bindung braucht es Reaktionen, die innerhalb kurzer Zeit (und Säuglinge haben natürlich ein anderes Zeitempfinden als Erwachsene) und passend zum geäußerten Bedürfnis oder/und passend zum Bindungsverhalten erfolgen. 

Bedürfnisse und Wünsche

Oft wird im Kontext von Bindungs-, Beziehungs- und Bedürfnisorientierung nach dem Unterschied von Wünschen und Bedürfnissen gefragt.
Zu Bedürfnissen gibt es viele Aufzählungen. Sie reichen von der Maslow’schen Bedürfnispyramide, bei der erst körperliche Bedürfnisse erfüllt sein müssen, bevor psychische Bedürfnisse überhaupt relevant werden, bis zu Auflistungen von Grundrechten aller Art (emotional, psychisch, körperlich, sozial). Sie dienen als Hilfestellung, um eine Vorstellung zu bekommen, was Bedürfnisse sind.
 
 
Doch auch hier muss man Vorsicht walten lassen. Die 7 B’s des Attachment Parenting nach Martha und William Sears werden auch Grundbedürfnisse genannt, sind jedoch eine ideologisch gefärbte Auflistung, die in der Bubble der Bedürfnisorientierung zu teilweise abstrusen Idealen für eine gute Bindung geführt haben (https://greatergood.berkeley.edu/article/item/why_attachment_parenting_is_not_the_same_as_secure_attachment).
 
Nora Imlau unterscheidet in „Meine Grenze ist Dein Halt“ Wünsche z.B. als konkret und situativ und Bedürfnisse als universal, also für alle Menschen gültig. Diese Unterscheidung finde ich sehr hilfreich und alltagspraktisch.
 
Doch ist diese Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Wunsch in Bezug auf Bindung und prompte und angemessene Reaktionen auf das Bindungsverhalten eines Säuglings eigentlich irrelevant. Denn es geht mehr darum, den Säugling mit seinen Bedürfnissen und Wünschen zu sehen und kennenzulernen, als um erzieherisches Handeln (für das die Bewertung einer Sache als Wunsch wichtig ist).
 
In den ersten 18 Monaten entwickeln sich Vorlieben und Wünsche beobachtbar nach und nach. Das Zeitfenster, in dem eine Reaktion „prompt“ genannt werden kann, vergrößert sich. Und was eine „angemessene“ Reaktion ist, wird mehr und mehr zu einer Erziehungs- und Werteentscheidung.
 
Ein Vater eines 6 Monate alten Babys fragte mich beispielsweise mal, ab wann er mit seinem Kind Frustrationstoleranz üben könnte. Dafür wollte er wissen, welche Wünsche seines Kindes er prompt erfüllen müsste und bei welchen er die Erfüllung hinauszögern könne. Die Antwort der Bindungstheorie ist ganz klar: Je zuverlässiger in diesem Alter Bedürfnisse und (wenn man sie so nennen will) Wünsche erfüllt werden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für spätere Frustrationstoleranz.
 
Es ist wichtig, zu unterscheiden: Geht es um Reaktionen auf Bindungsverhalten des Kindes oder um erzieherisches Handeln, das vom Erwachsenen ausgeht und zielorientiert Einfluss nehmen soll? In diesem Beitrag geht es um Ersteres, der Beitrag, der sich mit Erziehung beschäftigt, ist dieser

Grundlage für ein inneres Arbeitsmodell von Beziehungen

Die verschiedenen Bindungsmuster resultieren aus den Reaktionen auf vom Kind geäußerte Bedürfnisse bzw. gezeigtes Bindungsverhalten. Sie sind allerdings nur ein Ausgangspunkt für das innere Arbeitsmodell über Beziehungen, das ein Kind nach und nach entwickelt. Dieses Arbeitsmodell bestimmt, wie ein Mensch ganz grundlegend an Beziehungen herangeht. An ihm wird lebenslang durch Erfahrungen und Fähigkeiten gearbeitet, es ist nicht starr, sondern kann je nach Beziehungspartner auch etwas angepasst werden.
Zwar bleibt das grundlegende Muster von Bindung darin aktiv, aber Menschen sind Iern- und entwicklungsfähig und können durch neue Erfahrungen sogar das Bindungsmuster verändern. Das ist allerdings ein langfristiger Prozess und er braucht Zuverlässigkeit in den Reaktionen der als Bezugspersonen beteiligten Menschen.

Bindung ist eine Interaktion

Denn schauen wir noch einmal auf die entscheidenden Dinge für eine sichere Bindung, dann sehen wir:
Bindung basiert auf Bindungsverhalten – zunächst von den Säuglingen, aber auch von den Bezugspersonen.
Arme ausstrecken, beobachten/anschauen, lächeln und darauf reagieren sind zentrale Handlungen für den Bindungsaufbau. Die Spiegelneuronen helfen in der Regel, passend auf einander zu reagieren, aber jede:r kennt auch dieses Baby, das keine Miene verzieht, wenn man es anlächelt. Und diesen Erwachsenen, der nicht mitbekommt, wie das Baby ihn anschaut. Das ist alles kein Problem, solange es sich um Einzelsituationen handelt und nicht der Standard in der Interaktion zwischen dem Säugling und seiner erwachsenen Bezugsperson ist.
Dass Bindungsverhalten nicht ausschließlich von der Bezugsperson, sondern vor allem vom Säugling ausgeht, ist mir wichtig zu betonen. Denn viele Eltern sehen die Verantwortung für das entstehende Bindungsmuster allein bei sich (und nicht in der Interaktion mit einem aktiven und gestaltenden Kind). Sie fürchten, mit ihrem Verhalten eine unsichere Bindung hervorzurufen. Diese Befürchtung ist meines Erachtens nicht nur unnötig, sondern auch überheblich und falsch:
  • Unnötig, denn die meisten Menschen entwickeln eine sichere Bindung,
  • falsch, denn 2 von 3 unsicheren Bindungsmustern sind keine „schlechten“ Bindungsmuster, sondern „nur“ unsichere.
  • und überheblich, da Kinder auch in dieser Lebensphase bereits aktiv gestaltende Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten sind.
Viele Menschen assoziieren mit Bindung „Nähe“. Das ist jedoch nicht das, worum es eigentlich geht. Nähe erleichtert nur das, worum es geht, nämlich
das „Lesen“ des Kindes.
Das bedeutet, das Bindungsverhalten des Kindes – und das Pendant, sein Explorations-, also Entdecker-Verhalten! – wahrzunehmen und richtig zu deuten und prompt und angemessen darauf zu reagieren.
 
Denn Kinder sind von Geburt an eine eigene Persönlichkeit mit einem eigenen Nähe- Distanz-Empfinden (also was als angenehm erlebt wird) und einer Neugier auf die Welt. Die Reaktionen der Bezugspersonen (mit ihrem eigenen Bindungsmuster und ihrer eigenen Persönlichkeit) auf das gezeigte Bindungs- und Explorationsverhalten wirken sich dann auf die weitere Entwicklung des Kindes aus.
Das heißt zum Beispiel auch, dass ein sehr nähebedürftiger Mensch, der unter Bindung Nähe versteht, jede Äußerung seines Kindes als Bitte um Nähe versteht und das Kind in dieser Hinsicht missversteht. Dass das im Lauf des Kennenlernens von Kind und Bezugspersonen sicher auch mal passiert, ist wieder nicht das Problem. Gerade zu Beginn der Elternschaft für ein Kind sind viele Reaktionen ein Try&Error, aus dem man lernt. Entscheidend bleibt die Offenheit für das Verhalten und die Reaktionen des Kindes und die wechselseitig angepasste und aufeinander abgestimmte Interaktion und Kommunikation. Das bedeutet es, feinfühlig für die Bedürfnisse des Kindes zu sein.
 
Das Verhältnis zwischen erwachsener Person und Kind ist das von Fürsorge von einer verantwortlichen Person für ein hilfloses Wesen. Selbstverständlich trägt deshalb die erwachsene Person für diesen Prozess die Verantwortung – aber sie gestaltet ihn nicht allein, sondern zusammen mit dem Säugling. Und im besten Fall ist eine Bezugsperson selbst in ein Netz aus Beziehungen verwoben, in dem weitere Bezugspersonen für den Säugling da sind. Denn insbesondere eine sichere Bindung ist nicht exklusiv, sondern befähigt dazu, weitere Bindungen und später Beziehungen zu anderen Bezugspersonen zu entwickeln.

Abgrenzung von anderen Bindungsverständnissen

Manche der Beschreibungen in diesem Blogbeitrag sind der Tatsache geschuldet, dass in der Ratgeber-Literatur zu Erziehung der Begriff Bindung teilweise undifferenziert benutzt wird.
Ich möchte mich an dieser Stelle explizit davon abgrenzen, wie der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld zusammen mit Dr. Gabor Maté Bindung im Buch „Unsere Kinder brauchen uns“ beschreibt.
 
Meine Kritik bezieht sich unter anderem darauf, dass sie
– Bindung als bipolar beschreiben (entweder es besteht eine Bindung oder das Gegenüber wird abgelehnt, es gibt keine Unterscheidung in verschiedene Bindungsmuster, also sprechen sie auch nicht von „sicherer Bindung“ im Sinne Bowlbys),
– Bindung als exklusiv beschreiben, d.h. eine Bindung an eine Person schließt andere aus dieser Bindung aus,
– dass sie Bindung explizit nicht als Verhalten, sondern als Zustand qualifizieren,
– dass sie Bindung als ein lebenslanges Grundbedürfnis beschreiben, ohne ihr Autonomie als komplementäres lebenslanges Grundbedürfnis gegenüberzustellen,
– dass sie eine Gleichaltrigenorientierung in der Kultur nicht nur als Ursprung für „falsche Bindungen“ ausmachen (nämlich von Kindern an Gleichaltrige statt an Erwachsene), sondern darauf auch noch so unterschiedliche Problematiken wie Depressionen, Schwarz-weiß-Denken, Suizidalität und Selbstwertprobleme zurückführen,
– dass sie Kinder einerseits als völlig unbeteiligt daran darstellen, zu wem eine Bindung aufgebaut wird, und andererseits ihnen die volle Verantwortung dafür zuschreiben, dass sie sich an die „Falschen“ (eben die Gleichaltrigen) „gebunden“ haben. Kinder werden so doppelt alleingelassen.
 
Was Neufeld und Maté beschreiben, ist nicht mit dem Bindungsbegriff von John Bowlby vereinbar. Das ist auch gar nicht ihr Bindungsverständnis, sie beziehen sich überhaupt nicht darauf. Wer sich auf sie oder ihre Vertreterinnen (inBindung, Marina Hoffmann, Deborah MacNamara) Vertreterinnen bezieht, muss diesen Unterschied im zugrundeliegenden Konzept von Bindung berücksichtigen.

Meine Position

Es ist deutlich geworden, dass ich Bowlbys Bindungsbegriff nutze, wenn ich bei Familien begleiten von Bindung spreche. 

 

Ich gehe also von einer Interaktion zwischen einem Säugling und Kleinkind bis 18 Monate und seinen Bezugspersonen aus, die ein Muster von Bindung und ein Arbeitsmodell von Beziehungen formt. In dieser Zeit beginnt Erziehung und wenn ich von Bindungsorientierter Erziehung sprechen würde,  dann höchstens in dieser Phase. 

 

Warum ich allerdings Bindungs- und Bedürfnisorienterte Erziehung als Quatsch bezeichne,  das liest Du hier.

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